Seit dem Massaker der Hamas an israelischen Zivilisten und den Folgen für die Menschen in Gaza und Isreal, berichten mir viele Menschen in meiner Praxis, dass sie sich von Ohnmacht, Wut und Trauer überwältigt fühlen. Das Entsetzen darüber, was Menschen Menschen antun können, gepaart mit dem Gefühl, dass die Schreckensnachrichten aus der Welt nicht abreißen, überfordern ihren Körper und ihre Psyche. „die Flut, das Klima, Corona, die Ukraine und nun dieses Massaker – ich fasse es einfach nicht, ich halte es kaum aus!“ sagen sie.
Wenn Gefühle uns so stark überfluten, dass wir „es nicht fassen“ können, tritt oft ein inneres Notprogramm in Kraft. Um die Überflutung „besser (aus)halten“ zu können schützt sich unser Organismus, in dem er abschaltet. Ein plötzliches Abschalten kann sich zum Beispiel so äußern, dass jemand vor Schreck in Ohnmacht fällt. Meistens aber fährt der Körper als Reaktion auf übermäßige Angst, Wut und Trauer wichtige Funktionen im menschlichen Körper und Geist nach und nach runter.
Das kann sich dann zum Beispiel als Mattigkeit, Energielosigkeit, geringerem Interesse an Lieblingsbeschäftigungen, gesteigerter Angst, Reizbarkeit, Misstrauen, Niedergeschlagenheit, Konzentrationsschwierigkeiten oder einem Rückzug von der Welt äußern. Diese Symptome sind typisch für traumatisierte Menschen. Sie sind erwartbar bei Kriegsopfern und Opfern von Gewalt und Zerstörung. Doch die Menschen, die meine Praxis aufsuchen, leben in relativer Sicherheit. Sie sind stille Zeugen ferner Schrecken, aber ihre Körper und ihre Psyche zeigen Anzeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Dass Zeug*innen ebenso schwer traumatisiert werden können wie Opfer, kennen wir auch von Feuerwehrleuten, Rettungskräften, Beobachter*innen von schweren Unfällen etc. Der menschliche Organismus unterscheidet kaum zwischen der unmittelbaren Gefahr und dem schrecklichen Geschehen, das er „nur“ sieht, hört oder bezeugt. Die physiologischen Reaktionen als Antwort auf unmittelbare oder sekundäre Traumata sind nahezu identisch und haben die gleiche Entstehungsgeschichte. In tatsächlich oder gefühlt existenzbedrohlichen Situationen werden im Körper immense Energien bereitgestellt, die wir brauchen, um gegebenenfalls um unser Leben zu rennen oder bis auf’s Blut zu kämpfen. Dieses Kampf-Flucht-Programm war in der Evolution entscheidend, um zu überleben. Ein Trauma tritt auf, wenn die Bedrohung zu schnell, zu plötzlich oder zu intensiv auf uns einwirkt, so dass wir weder erfolgreich flüchten noch siegreich kämpfen können und die Energie ungenutzt im Körper verbleibt. Die angesammelte Energie ist zu viel für den Organismus, der daraufhin das gesamte System herunterfährt. Dieser „Shut down“ ist ein charakteristisches Merkmal einer Traumareaktion. Menschen mit Traumata in ihrer Geschichte sind tragischerweise anfälliger für neue Traumareaktionen, da ihr Organismus leichter getriggert werden kann.
Wenn wir Nachrichten, Bilder, Videos und Chats über Greueltaten in Nahost, der Ukraine oder anderswo auf der Welt konsumieren, kann unser Organismus unter Umständen so reagieren, als wären wir mittendrin in Krieg, Not, Angst und Gewalt. Dies führt dazu, dass unser Inneres immer stärker auf Gefahr fokussiert und wir in einen Sog der Negativität und Destruktivität geraten. Es gelingt uns nicht wahrzunehmen, dass wir jetzt, in diesem Moment, sicher sind und dass es auch Gutes in unserem Leben gibt.
Hinter dem Schleier der Negativität verlieren wir die Fähigkeit, zu gesunden, mitzufühlen und sinnstiftend zu handeln. Im Traumasog betrachten wir alles durch die Brille der Angst und des Misstrauens, unsere Lebensenergie wird drastisch gedrosselt, und wir kategorisieren scharf in Freund und Feind, schwarz und weiß. Nichts davon trägt dazu bei, Konflikte beizulegen oder kreative Lösungen für ein friedliches Miteinander auf diesem Planeten zu finden.
Daher ist es nicht nur aus persönlichen, gesundheitlichen Gründen, sondern auch aus sozialen und friedenspolitischen Überlegungen unerlässlich, alles zu tun, um Sekundärtraumatisierung zu vermeiden bzw. bereits im Keim zu ersticken. Hier sind einige Tipps, die dabei helfen können:
- Mach dir klar, welche Absicht du verfolgst, wenn du Nachrichten, Chats, Videos wahrnimmst. Möchtest du verstehen, bei den Menschen sein, helfen, dich mit anderen verbinden, Mitgefühl zeigen? Dienen deine Mediengewohnheiten dieser Absicht? Passe dein Verhalten gegebenenfalls an.
- Sieh die Informationsaufnahme als eine bedeutende Aufgabe an. Erledige sie nicht nebenbei oder oberflächlich, sondern mit voller Konzentration damit du differenzieren und angemessen sprechen und handeln kannst.
- Nimm dir Zeit, um die aufgenommenen Informationen zu verdauen. Verbringe einige Augenblicke in Stille, fühle deine Gefühle, spüre deinen Körper. Lass dich bewusst berühren und erlaube deinem Gesicht, auszudrücken, was du empfindest. Vielleicht möchtest du sogar einen Ton machen. Mach dir dann bewusst, dass du in Sicherheit bist, schau dich um, und erlaube deinen Sinnen, sich an schönen Dingen zu erfreuen. Spüre den Boden unter deinen Füßen. Lege eine Hand auf die Brust, spüre deinen Atem. Schiebe die andere Hand mit der Handfläche nach vorne von dir weg. Gewinne Raum und mach dir klar, dass das Geschehen weit weg ist und du hier und jetzt in relativer Sicherheit bist. Sende Mitgefühl zu den Menschen in Not. Fühle Dankbarkeit für deine eigene Sicherheit. Löse dich von den Geschehnissen und wende dich deinen alltäglichen Aufgaben zu.
- Wenn du bemerkst, dass du wie gelähmt bist, bringe deinen Körper behutsam in Bewegung. Jede Bewegung, die dir Raum gibt, die dich ausdehnen lässt ist hilfreich. Bewegungen, die an Kampf, Schutz und Verteidigung erinnern, sind ebenfalls hilfreich. Bewegungen, die deine Energie fließen lassen, wie langsames und bewusstes Gehen oder Tanzen sind hilfreich. Achte dabei bewusst auf die Empfindungen in deinem Körper.
- Lass Krieg, Gewalt und Zerstörung nicht das Erste und Letzte sein, was du am Tag wahrnimmst. Beginne und beende deinen Tag mit sinnlich schönen Erlebnissen: Einer Tasse Tee, einem Spaziergang, schöner Musik, einem Blick in den Herbsthimmel oder in die Augen deiner/deines Liebsten.
- Die Seele heilt am besten in Gemeinschaft. Finde Menschen, mit denen du spielen, lachen, balgen kannst. Initiiere eine Gruppe, die sich regelmäßig trifft, um sich auszutauschen und einander nah zu sein. Das kann eine „politische Gruppe“, eine „Selbsthilfegruppe“ oder eine Gemeinschaft sein, die zusammen kocht, strickt, Sport treibt oder wandert. Wenn ihr euch trefft, nehmt euch Zeit für bewusste und liebevolle Berührungen sowie freundlichen Augenkontakt.
- Nimm dir in regelmäßigen Abständen Zeit, um darüber nachzudenken, was du konkret tun kannst, um Krieg und Zerstörung zu vermeiden und zu Frieden in der Welt beizutragen. Handle entsprechend deiner Erkenntnisse, zum Beispiel wechsele zu einer Bank, die keine Rüstungsprojekte finanziert, meide Veranstaltungen von Organisationen mit zweifelhaften Geschäftspraktiken (Fifa) oder achte auf Nachhaltigkeit bei Nahrung, Konsumgütern, Kleidung, Transport.
Noch einige Hiweise, wie du deinen Organismus und deine Psyche unterstützen kannst auch in Krisenzeiten präsent, lebendig, mitfühlend zu sein und sinnstiftend zu handeln:
Frieden in deinem eigenen Herzen, Geist und deiner unmittelbaren Umgebung schaffen:
- Dynamische Meditation, wenn du ein Ventil für Emotionen benötigst.
- Stille Meditation, um dich zu sammeln und deine Gefühle und Gedanken zu klären.
- Gehmeditation, um eine Haltung des Friedens zu verkörpern, auch in der Öffentlichkeit.
- Gruppenmeditationen, wie etwa die Herz-Chakra-Meditation von Karunesh.
- Die Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation anwenden.
- An Pilgerwanderungen und Friedensmärschen teilnehmen. Verzichte dabei auf Parteilichkeit.
- Die Versöhnung zwischen Streitparteien in deinem Freundeskreis, Job, in der Familie oder Nachbarschaft unterstützen.
- Die Kraft der Vergebung kultivieren – sowohl um Verzeihung bitten als auch sie gewähren.
- Versöhnung, Mitgefühl und Klarheit durch Familienaufstellungen fördern.
- Im Straßenverkehr Rücksicht und Freundlichkeit zeigen.
- Barmherzigkeit gegenüber Notleidenden, Bettlern und Obdachlosen üben.
- Den Kontakt zu Menschen aufrechterhalten, die es schwer haben und vielleicht gerade nicht die angenehmste Gesellschaft sind.
- Filme, Gedichte, Literatur, Theater und Kunst zum Thema Krieg, Frieden, Zusammenleben selbst erschaffen und/oder mit anderen erleben und darüber sprechen.
- Gewalt und Krieg in Gesprächen niemals relativieren oder rechtfertigen, sondern die Realität beim Namen nennen, ohne sie zu dramatisieren oder zu verharmlosen.